Der heilige Johannes ist eine bedeutende Figur der Kirchengeschichte: Als Sohn des Zebedäus und der Salome wurde er als vierter Jünger Jesu berufen und war als einziger Apostel während der Kreuzigung unter dem Kreuz anwesend, wo Jesus ihn seinen „Lieblingsjünger“ nannte (Johannesevangelium 19, 26). Dort vertraute Jesus ihm auch seine Mutter Maria an. Außerdem sah er als erster Jünger das leere Grab und erkannte später den Auferstandenen. Er zählt zu den „Säulen“ der Urgemeinde (Galaterbrief 2, 9) und wird häufig mit Johannes dem Evangelisten gleichgesetzt.
Bei dieser Skulptur des heiligen Johannes handelt es sich um eine außergewöhnlich feine Schnitzarbeit der Spätgotik. Johannes ist stehend dargestellt; er blickt nach oben, sein kantiges Gesicht ist gerahmt von dichten goldenen Löckchen. Schmale Augenbrauen liegen über mandelförmigen Augen; eine kurze, aber prominente Nase sitzt über einem kleinen Mund. In seinen Händen hält er ein Buch, vermutlich die Heilige Schrift. Sein Oberkörper ist leicht nach rechts gedreht und er scheint wohl gerade in Zwiesprache mit dem Herrn zu sein. Besonders eindrucksvoll sind die Tränen, die in langen Bahnen aus den Unterlidern hinabfließen. Die dunkelblauen Tränen kontrastieren mit den hellrosa Wangen, dem weißen, krakelierten Inkarnat und dem roten Mund, gerahmt von ölvergoldeten Haaren. Das Pathos dieser Details untermauert die empathische Rolle des Johannes bei der Kreuzigung und ruft die Betrachter auf, es ihm gleichzutun.
Diese Farben spiegeln sich auch in der Polychromie des Gewandes wider: Seine Kleidung mit umgeschlagenem Kragen ist in Dunkelblau mit goldenen Ornamenten, wie seine Haare, gehalten. Darüber ist ein roter Mantel drapiert, der in hochkomplexen Faltenkonfigurationen herabfällt. Die V-förmigen Schüsselfalten an der Vorderseite betonen optisch den Höhenzug, weitergeführt durch den nach oben gewandten Blick. Außergewöhnlich ist jener Faltenbausch, der unter seinem rechten Ellbogen eingeklemmt ist. Diese beinahe manieristische Komponente verleiht der Figur des Johannes eine ausgesprochen verlebendigende Dynamik und Unmittelbarkeit. Parallelen zu den schnitzerischen Werken von Niklaus Weckmann (aktiv um 1481-1526 in Ulm) sind erkennbar: Er war in Auftragsarbeiten mit dem bekannten Jörg Syrlin involviert und führte in Ulm des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts eine sehr erfolgreiche Bildhauerwerkstatt. Unter anderem zeigt die Figur eines trauernden Johannes um 1510/20 von Weckmann (Bayerisches Nationalmuseum, München) Ähnlichkeiten, wie das markant-kantige Gesicht, gerahmt von üppigem Haupthaar, und die reiche Faltengebung mit komplexen Eck- und Knickfalten.
Literatur:
Barbara Maier-Lörcher, Meisterwerke Ulmer Kunst, Ostfildern 2004.
Brigitte Reinhardt (Hrsg.), Michel Erhart & Jörg Syrlin d. Ä.: Spätgotik in Ulm, Ulm 2002.
Erwin Treu (Hrsg.), Ulmer Museum, Katalog I: Bildhauerei und Malerei vom 13. Jahrhundert bis 1600, Ulm 1981.
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