Hans Klocker und die Brixner Werkstatt
Hans Klocker, ein bedeutender Schnitzmeister der Spätgotik, wirkte im späten 15. Jahrhundert in Brixen, einer der wichtigsten Kunstzentren Tirols. Seine Werkstatt zeichnete sich durch eine besonders feine Oberflächenbearbeitung und eine expressive Figurenauffassung aus, die an den stilistischen Entwicklungen der spätgotischen Skulptur partizipierte. Klockers Werke sind gekennzeichnet durch eine natürliche Lebendigkeit in der Mimik, differenzierte Gewandbehandlung und eine technisch anspruchsvolle Polychromie, die durch die Polimentvergoldung und Silberfassung feine Kontraste erzielt. Seine Werkstatt schuf zahlreiche Altarwerke und Einzelfiguren, die vor allem in Tirol und Südtirol Verbreitung fanden.
Der stehende Heilige
Die hier dargestellte Figur eines männlichen Heiligen präsentiert sich als äußerst fein geschnitztes Flachrelief und stammt aus eben dieser Brixner Werkstatt. Der Heilige steht frontal auf einer fein ausgearbeiteten Grasfläche. Er ist in eine lange, silbern oxidierte Tunika gekleidet, die durch den rüstungsartigen Gürtel einem Harnisch gleicht. Diese metallisch schimmernde Kleidung bildet einen markanten Kontrast zu dem goldenen Umhang, dessen Innenseite in Rot gefasst ist. Auffällig sind außerdem die langen, grünen Stiefel, die spitz zulaufen und eine betont gotische Silhouette erzeugen.
Das Haupt des Heiligen ist von dicht gelocktem, schulterlangem Haar und einem Vollbart gerahmt, beides mit feinen, spätgotischen Locken versehen, die charakteristisch für die Werke Klockers sind. Auf seinem Haupt trägt er einen Hut mit nach oben gestellten Krempen, der vermutlich die Kopfbedeckung eines Reisenden darstellt. Dies könnte auf einen pilgernden oder wandernden Heiligen hindeuten. In seiner linken Hand fasst er den roten Innensaum seines Mantels, wodurch eine leichte Bewegung in der Komposition angedeutet wird.
Stilistik
Die Figur zeichnet sich durch eine für die Spätgotik typische stilistische Differenzierung aus. Die Oberflächenbearbeitung der Bodenfläche zeigt eine fein ausgearbeitete Struktur durch einen Stichel, ebenso wie die wallenden Haare. Besonders eindrucksvoll ist die Draperie gestaltet: Eckige Dreiecksfalten verlaufen stakkatoartig von der Armbeuge herab und liegen flach auf der Bodenfläche auf. Dieser Wechsel von voluminös-kantigen, fast skulptural hervortretenden Partien und flach anliegenden, geradlinigen Flächen erzeugt ein spannungsreiches Spiel zwischen Licht und Schatten. Die Polimentvergoldung verstärkt diesen Effekt, indem sie das Licht an den Oberflächen unterschiedlich bricht. Insbesondere an den Kanten der Falten ist eine fein abgestimmte Schattierung sichtbar, die der Figur Plastizität und eine fast lebendige Textur verleiht. Diese Kombination aus geometrischer Strenge und flachem Faltenwurf ist charakteristisch für die Klocker-Werkstatt und unterstreicht dessen meisterhafte spätgotische Schnitzkunst.
Identifikation als Heiliger Martin
Die dargestellte Figur stellt mit hoher Wahrscheinlichkeit den Heiligen Martin von Tours dar, einen der bekanntesten Heiligen des Mittelalters. Martin war ein römischer Soldat, der sich nach einer berühmten Begebenheit zum Christentum bekehrte: Er soll seinen Mantel mit einem frierenden Bettler geteilt haben. Später wurde er Bischof von Tours und in ganz Europa als Schutzheiliger verehrt. Ursprünglich könnte die Figur ein Schwert getragen haben, wobei die Darstellung mit einem Reisehut sowie mit rüstungselementartigem Gürtel auf seine Herkunft als Soldat hindeuten würden. Besonders die auffällige Geste des Gewandraffens scheint hier als eine Art Attribut zu fungieren.
Anbringungsort
Es handelt sich um ein Relief, das in einem Altar, möglicherweise an einem Flügel oder innerhalb einer Reihe von Heiligen, angebracht war. In solchen Kontexten wurden Attribute oder narrative Darstellungen oft verkürzt wiedergegeben, sodass sie nur im Zusammenhang mit anderen Heiligenbildern oder dem zentralen Altarbild vollständig lesbar waren. Dies könnte erklären, warum keine eindeutigen Identifikationsmerkmale vorliegen.
Die Figur des Heiligen Martin illustriert eindrucksvoll die meisterhafte Schnitzkunst der Brixner Werkstatt unter Hans Klocker, deren Werke durch expressive Figurenauffassung und feine Oberflächenbearbeitung bedeutende stilistischen Entwicklungen der spätgotischen Skulptur widerspiegeln.
Literatur
Gisela Scheffler, Hans Klocker. Beobachtungen zum Schnitzaltar der Pacherzeit in Südtirol, Innsbruck 1967.
Gisela Scheffler, „Hans Klocker“, in: Neue Deutsche Biographie (NDB), Band 12, Berlin 1980, S. 103 f.