Hildegard von Bingen (Bermersheim 1098 – 1179 Bingen) war eine Klostergründerin, Äbtissin und Mystikerin. Sie war ebenso eine große Naturforscherin und Naturheilkundlerin, die ihr Wissen über die Wirkungskräfte der Natur in zwei Werken niederschrieb, für die sie auch heute als “erste schreibende Ärztin” berühmt ist: Physica (Naturkunde) und Causae et curae (Ursachen und Behandlung). Letzteres Werk wurde um 1150-60 verfasst, wobei sich dieses unter anderem mit der Schöpfung und der damit in Zusammenhang gebrachten Verbundenheit von Körper und Seele, mit dem Kosmos, mit Abhandlungen über gesunde und kranke Menschen und mit heilkundlichen Methoden aus der traditionellen Klostermedizin befasst. Besonders bedeutend ist die exakte Beobachtung natürlicher Phänomene; sogar Frauenbeschwerden werden in verblüffender Ausführlichkeit und Offenheit behandelt. Hildegard von Bingen betonte stets, dass sie ihre Kenntnisse als göttliche Visionen empfangen habe und den Auftrag bekam, diese niederzuschreiben.
Die Mystikerin wird äußerst selten skulptural dargestellt; die zusätzliche zeitliche Einordnung in die Spätgotik macht diese Figur zu einer noch größeren Rarität. Diese außergewöhnliche, vollrund geschnitzte Figur der Heiligen ist durch ihre Mimik und Gestik besonders ausdruckskräftig. Sie ist in aufrechter Haltung gezeigt, die Hände im Gebetsgestus vor der Brust gefaltet. Sie blickt nach oben, möglicherweise gerade im Zwiegespräch mit Gott. Ihre tiefliegenden Augen werden gerahmt von kurzen, scharfen Augenbrauengraten. Die mandelförmigen Augen sind weit geöffnet. Ihre Stupsnase sitzt zentral im Gesicht; der Mund ist zu einem leichten Lächeln verzogen. Gerahmt ist ihr rundes Gesicht von einem typischen Velan über einem Tuch, das ihr Haar und ihren Hals verdeckt. Über ihre Schultern ist ein enganliegender Mantel geworfen, der zu ihren Füßen zusammengebauscht ist. Besonders eindrucksvoll sind die Falten an den Ärmeln, die in ringförmigen Formationen um ihre Arme geschlungen sind. Darunter treten Schüsselfalten hervor. Abwechselnd sind voluminöse, kantige Faltenbahnen mit enganliegenden Partien am Mantel durchkonstruiert. Am Boden sind Ohrenfalten gezeigt. An der linken Seite sind V-förmige, unregelmäßige Schüsselfalten zu sehen, während auf der rechten Seite enge Falten in einer Art nassem Stil dargestellt sind. Dies verleiht der Figur einen interessanten Kontrast in der Oberflächenstruktur, der das Auge des Betrachters über das Gewand führt. Die Rückseite der Figur ist schlichter ausgeführt, wobei dies darauf hindeutet, dass die Figur für eine Schauseite konzipiert wurde.
Stilistisch weist die Figur starke Verwandtheit zu Werkstattarbeiten Daniel Mauchs auf. Mauch kommt als letztem großem Künstler der Ulmer Schule besondere Bedeutung zu. So eröffnete er ab 1503 eine eigene Werkstatt und arbeitete mit dieser an zahlreichen spätgotischen Altarprojekten. Dabei zeigen seine Werke bereits Anklänge des Übergangs von der Spätgotik zur Renaissance. Die beinahe spitzbübisch verzogene Mundpartie sowie das reich gefältelte Gewand mit komplizierten Falten weisen Ähnlichkeiten zu Mauchs Anna Selbdritt um 1510/15 aus dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, auf (Inv.-Nr. Pl.O.199). Die mehrteiligen Schüsselfalten um die Halspartie stimmen außerdem mit zahlreichen seiner Darstellungen der heiligen Anna in der Heiligen Sippe (u.a. Bayerisches Nationalmuseum, München, Inv.-Nr. MA 1880; Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt, Tomerdingen) überein.
Literatur:
Barbara Maier-Lörcher, Meisterwerke Ulmer Kunst, Ostfildern 2004.
Brigitte Reinhardt (Hrsg.), Michel Erhart & Jörg Syrlin d. Ä.: Spätgotik in Ulm, Ulm 2002.
Susanne Wagini, Der Ulmer Bildschnitzer Daniel Mauch (1477–1540), Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm (Band 24), Ulm 1995.
Das große Buch der Hildegard von Bingen. Bewährtes Heilwissen für Gesundheit und Wohlbefinden, Köln 2017.
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