Die meisterhafte Skulptur wurde in der Werkstatt des Meisters des Altars von Mauer um 1500 im niederösterreichischen Raum hergestellt. Sie kann im Kontext der Donauschule des ersten Drittels des 16. Jahrhunderts verortet werden, wurde aus Lindenholz geschnitzt und ist 55 cm groß. Da keine Attribute oder Kontext vorhanden sind, handelt es sich um eine unbekannte Figur eines Schnitzaltars.
Der Meister des Altars von Mauer ist ein anonymer gotischer Bildschnitzer, der zwischen 1500 und 1525 tätig war und durch den Altar für die Pfarr- und Wallfahrtskirche von Mauer bei Melk diesen sogenannten Notnamen erhielt. Dieser Flügelaltar wurde vermutlich vom Stift Göttweig in den 1470ern in Auftrag gegeben und ist aus Lindenholz gefertigt. Er zeigt eine Ausprägung im Übergang von der Spätgotik zur Frührenaissance und gilt als wichtigster Schnitzaltar in Niederösterreich, der zwischen 1510-15 geschaffen wurde.
Die hier vorgestellte Figur ist in ihrer Ausführung mit den Figuren des Altars von Mauer sehr verwandt. In lebendig-bewegter Form dreht die Männerfigur den Oberkörper nach rechts, wobei der Kopf nach oben, wohl gen Himmel, gerichtet ist. Das rechte Bein im Ausfallschritt tritt unter der kuttenähnlichen Kleidung hervor; der nackte Fuß ist in stabiler Position auf der gesamten Fußsohle vor dem Körper abgesetzt. Wie in der Bewegung innegehalten sind seine Hände vor der Brust im Gebetsgestus verschränkt, wobei dies trotz der raumgreifenden Wirkung der Figur einen geschlossenen Eindruck vermittelt. Diese dynamisierte Körperlichkeit wird von der reich ausgearbeiteten und kantigen Draperie des Gewandes unterstrichen. Besonders ähnlich ist das aufgebauschte, gegürtete Obergewand wie jenes des Erzengels Gabriel bei der Verkündigungsszene des Altars von Mauer. Jedoch deutet die zurückgenommene Bearbeitung der Kleidung darauf, dass es sich hier um eine Nebenfigur, möglicherweise um einen Hirten, handelt. Weitere typische Merkmale dieses meisterhaften Bildschnitzers sind eine eckige Gesichtsform und charakteristische Physiognomie mit stark modellierten Hautoberflächen, tief liegenden, scharfgratig ausgeführten Augenpartien und betonten Grübchen am Kinn.
Diese Merkmale kommen besonders gut aufgrund der nicht vorhandenen Polychromie zur Geltung. Ebenso wie der Altar von Mauer könnte diese Figur auf Holzsichtigkeit konzipiert worden sein. Dies beschreibt Adolf Schmidl in seinem Reisebericht aus dem Jahr 1835 als „Genius des Meisters ohne alle Hülle“ (Adolf Schmidl, Wien’s Umgebungen auf zwanzig Stunden im Umkreise. Nach eigenen Wanderungen geschildert von Adolf Schmidl, Wien 1835, S. 331). Es ist denkbar, dass der tätige Meister in seiner Werkstatt keinen Fassmaler angestellt hatte, der die Figuren und Reliefs hätte bemalen können. Möglicherweise wurden die Auftragsarbeiten wie der Altar bei Mauer ohne Polychromie geliefert. Der Altar blieb auch holzsichtig; ob nun aus Geldnot oder aus ästhetischen Gründen ist unklar. Dies wird beispielsweise auch den Schnitzwerken von Tilman Riemenschneider, einem wichtigen Bildhauer der Spätgotik, nachgesagt, welcher die Figuren lediglich mit einer tönenden Lasur und Teilpolychromie versah.
Die Gesichtsphysiognomie mit dünnen Brauen, einer prominenten Nase und Kinn sowie vollen Lippen ist weiters mit der Zeichnung einer Mönchsbüste von Martin Schongauer (1450/91) verwandt. Diese könnte in eine Komposition einbezogen worden sein, welche als Kupferstich verbreitet wurde und als Vorbild für Schnitzwerke diente, wie sich dies auch in den Reliefs des Altars von Mauer bei Melk widerspiegelt. Während Form und Ausdruck noch Anteile der Spätgotik innehaben, so offenbart die gedrehte Bewegtheit der Figur eine Schwellenposition zur Frührenaissance.