ROMANISCHE MADONNA
„Sedes Sapientiae“

Auvergne
Um 1175/80
Kiefernholz
Reste von Polychromie
Höhe 40 cm

Bei dieser Madonnendarstellung handelt es sich um eine meisterhaft geschnitzte, äußerst frühe Figur aus Arven- oder Föhrenholz in exquisitem Erhaltungszustand. Sie wurde in der französischen Auvergne gegen 1175 gefertigt. Die kompakte Größe (40 cm) sowie die hohe Qualität deuten auf ihre Herstellung für den kostbaren Altarschrein einer romanischen Kirche hin. 

Die Madonna entspricht dem Typus Sedes Sapientiae: Maria als Thron der göttlichen Weisheit. Sie sitzt auf einem prachtvoll geschnitzten, zweistufig-erhöhten Thron und mittig thront das Jesuskind auf ihrem Schoß, das ebenso wie seine Mutter frontal ausgerichtet ist. In der linken Hand hält es ein Buch, während es die rechte Hand im Verkündigungsgestus erhoben hat. Die Figur ist symmetrisch konstruiert; die akribische Frontalität zeigt deutlich die frühe Entstehungszeit dieser beeindruckenden Darstellung. Die Gesichter sind plastisch-ausdrucksstark geschnitzt, mit großen, weit geöffneten Augen und tief gekerbten Oberlidern. Der strenge Ausdruck wird durch die prominente Nase betont, die nahtlos in die scharfkantigen Grate der Augenbrauen übergeht. Die vollen Lippen Marias sind leicht geöffnet, während jene des Kindes geschürzt sind. Ein Verweis auf die Vermittlerrolle Marias, die mit den Menschen kommuniziert und Jesus in Folge deren Fürbitten überbringt? 

Die sorgfältig ausgearbeiteten Oberflächen deuten die Draperie-Falten lediglich im flachen Relief an, wie es für die Zeit des 12. Jahrhunderts typisch ist. Das Schleiertuch Marias ist glatt über den Kopf gelegt, wobei an der Unterseite Eintiefungen zu sehen sind. An diesen Stellen waren vermutlich Appliken – möglicherweise Edelsteine – angebracht. Die Falten sind wulstartig um ihre Unterarme aufgebauscht; am Oberkörper deuten abgerundete Ritzspuren auf den Versuch hin, ein dünnes Gewand abzubilden. Dieses fällt in eigenwilligen Konfigurationen um die glatten Kniescheiben, um in paralleler Manier am Boden aufzutreffen. Hier wirkt das Textil dick wie luxuriöser Brokatstoff; eine vermeintlich dichte Borte fällt zwischen Marias Füßen als einziges asymmetrisches Element in angedeuteten Zickzackfalten herab. Die teigig-weichen Falten über den abgerundeten Formen wirken wie die Übertragung einer zweidimensionalen Maltechnik auf das dreidimensionale Schnitzobjekt. Besonders Ikonendarstellungen byzantinischer Chrysographie-Technik und Emailarbeit werden hier in Erinnerung gerufen.

In den eingekerbten Rillen haben sich Spuren von Polychromie erhalten, die darauf verweisen, dass das Gewand der Madonna grün und ihr Mantel blau gefärbt war. Hellrote Farbspuren am Kleid des Kindes verweisen auf dessen rote Färbung, wobei dies in der Tradition christlicher Farbsymbolik auf die bevorstehende Passion Christi verweisen könnte. Jedoch könnte es sich auch um Bolus – ein Tonerde-Silikat – handeln, das als Untergrund für eine spätere Blattvergoldung dient. Der Thron ist mit Resten einer dunklen, oxidierten Schicht überzogen, die auf eine frühere Versilberung hinweisen. Dieser ist ebenfalls symmetrisch strukturiert: Je eine Gruppe von drei schmalen Säulchen, die in Arkadenbögen münden, flankiert die Madonnendarstellung in majestätischer Weise. Diese Arkaden tragen je ein Paneel mit einem elliptischen Zierornament, das in einem dicken rechteckigen Rahmen eingeschrieben ist. Der Verweis auf zeitgenössische luxuriöse Möbelstücke findet sich auch bei weiteren dieser frühen Madonnendarstellungen wieder.

So ist beispielsweise die sogenannte Madonna von Orcival, oder Vierge en Majesté, stilistisch sehr mit dem hier vorgestellten Exemplar verwandt. Beide zeugen von hoher, meisterlicher Qualität, wobei die beschriebene Skulptur von größerer Eleganz geprägt ist und weniger blockartig-steif konstruiert wurde. Die vorgebeugte Haltung des Kindes beweist dies in spielerischer Manier und lässt die Darstellung außerdem stärker Betrachter-bezogen wirken. Weiters ist sie bereits Teil der später typischen Tradition, die Körper der Figuren nicht, wie zu Beginn, lediglich zu vergolden, sondern ebenfalls in ansprechend-bunte Polychromie zu kleiden. 

https://de.wikipedia.org/wiki/Notre-Dame_(Orcival)#/media/Datei:F09.N.-D._d’Orcival.0047.JPG

Auch ähnlich: Madonna, Portal von St. Anne, ca. 1150, Kathedrale Notre-Dame, Paris.