Bei diesem hochqualitativen Torso handelt es sich um die Darstellung einer Göttin. Gezeigt ist die stehende Göttin im Kontrapost: Das linke Spielbein tritt unter dem enganliegenden Gewand zum Vorschein, während das rechte Standbein die Biegung der Hüfte aufnimmt. Ihre kurvige Körperhaltung lässt darauf schließen, dass sie sich mit der linken Hand abstützt, während die rechte Hand im Kontrast dazu über ihren Kopf gehoben ist. Vergleichbar ist die Haltung mit einer stehenden Frauenfigur aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. (Louvre, Paris Inv.-Nr. MR 298; N 410; Ma 414). Es könnte sich hierbei um Venus, die Göttin der Liebe, handeln, die mit hinter dem Kopf verschränkter Hand lasziv an einer Säule lehnt. Weiters könnte auch eine der Musen dargestellt sein; sie gelten als Schutzgöttinnen der Künste aus dem Gefolge des Apollon, dem Gott der Weissagung. Die Frauenfigur präsentiert möglicherweise in der nach oben gestreckten, rechten Hand den Betrachtern ihr Attribut.
Die Göttin trägt griechische Gewandung, nämlich einen leichten Chiton, der in üppigen Falten ihre Brüste modelliert und in reicher Draperie zu Boden fällt. Der weite, stark gefältelte Mantel, auch Himation genannt, bedeckt ihre Schultern und bildet an der Taille eine breite Querfalte, die auf dem ausgestreckten linken Arm aufliegt. Der Mantel fällt hier diagonal herab und gibt den Blick auf das gegürtete Untergewand frei, dessen Bausch über die Hüften herabfällt. Eine derartige Kleidung ist charakteristisch für römische Statuen, welche von der griechischen Skulptur des Hellenismus (334-30 v. Chr.) beeinflusst sind. Besonders auffallend ist der Nachklang des sogenannten „nassen“ Stils, welcher die Körperformen von weiblichen Figuren durch das Aufliegen eines dünnen, scheinbar nassen Gewandes eher betont als verdeckt. In Gallien waren derartige Statuen in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts besonders beliebt.
Es könnte sich um die Darstellung einer Göttin aus einer Tempelanlage handeln. Es ist möglich, dass Invasoren diese Statue im späten 2. oder 3. Jahrhundert zerstörten, wobei deren Fragmente anschließend, wie üblich, auf dem Tempelgelände vergraben wurden. Dass es sich hier um einen Bodenfund handelt, zeichnet sich deutlich an der erhaltenen Patina ab. Der gemeißelte Kalkstein stammt möglicherweise aus dem französischen Norroy in Nordgallien, wo Kalkstein anstatt des in Italien typischen Marmors genutzt wurde. Sehr verwandt ist beispielsweise der Torso der Fortuna aus Nordgallien im Gallo-Römischen Museum Tongern, Belgien (Inv.-Nr. 69.A.4). Vergleichbar sind die dreieckigen Falten des Gewandes am Dekolleté, der schräg über den Oberkörper geführte Mantel, die V-förmigen Schüsselfalten entlang der Taille und die geradlinigen Faltengrate mit tiefliegenden Ausnehmungen. Die hier vorgestellte Figur besticht allerdings besonders durch die weiblichen und harmonischen Rundungen des Körpers mit dem anschmiegenden Stoff und die manieristisch drapierten Röhrenfalten des herabfallenden Mantels. Ein erstklassiges Beispiel antiker Bildhauerkunst!
Literatur:
A. Cahen-Delhaye, Le cavalier aux géants anguipèdes et trois autres statues gallo-romaines de Tongres, in: Archaeologia Belgica 219, 1979, S. 19-23.
Marcel Pobé, The Art of Roman Gaul. A Thousand Years of Celtic Art & Culture, Toronto 1961.
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